Rede zur aktuellen Stunde „Integrationsprobleme ernst nehmen“

Die Rede als Video

Die Rede im Wortlaut

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Laschet, als ich Ihnen gerade zugehört habe, dachte ich, wie schlecht muss es um seine Bewerbung für den Landesvorsitz stehen, dass er dieses Thema nutzt, sich in einer Art und Weise hier zu äußern, die Ihnen und Ihrer Arbeit, die Sie in den letzten Jahren geleistet haben, sehr unwürdig war.

Weder der Artikel, den Sie zum Anlass nehmen, heute eine Aktuelle Stunde zu beantragen, noch Ihr Redebeitrag sind dazu geeignet, in der Frage der Integration in Nordrhein-Westfalen weiterzukommen.

Meine Damen und Herren, ich stehe hier als Kind der zweiten Generation, bin in Deutschland geboren. Es erfüllt mich auch mit Stolz. Es sollte uns alle in Nordrhein-Westfalen, alle Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit Stolz erfüllen, dass wir nicht nur Probleme haben, sondern dass wir inzwischen so weit sind, dass es in Nordrhein-Westfalen auch Abgeordnete mit Migrationshintergrund gibt, die sich direkt äußern können, und dass wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht übereinander, sondern miteinander reden. Zu diesem Miteinander gehört das, was Sie gerade im zweiten Teil Ihrer Rede ausgeführt haben: dass wir die Ansätze, die wir im Jahre 2001 in NordrheinWestfalen mit auf den Weg gebracht haben, ernst nehmen.

Herr Laschet, ich habe Sie ein paar Mal erlebt. In Ihrer letzten Rede vor der Wahl haben Sie schon fast fließend Türkisch geredet. Insoweit sind Sie jemand – das erkenne ich wirklich an –, der atmosphärisch und zumindest in den letzten fünf Jahren bei den Migrantenselbstorganisationen sehr viel bewegt hat. Umso enttäuschter bin ich, dass Sie diese Rede, die Sie eben gehalten haben, hier halten mussten.  Natürlich gibt es die gelungenen Integrationsbeispiele. Wir sollten unsere Augen nicht davor verschließen, dass es in den letzten Jahrzehnten in bestimmten Bereichen tatsächlich keine Integrationsfortschritte gegeben hat.  Es gehört übrigens kein Buch oder viel Mut dazu, andere Leute zu beschimpfen und dadurch eine Auflage von 400.000 zu erreichen, aber es gehört Klarheit darüber dazu, dass man die Dinge in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen benennen darf. Und das tut auch jeder von uns. Denn wir haben natürlich auch erhebliche Probleme. Niemand hat hier Redeverbot. Niemand hat gesagt, dass man die Probleme, die wir nach wie vor in Nordrhein-Westfalen haben, nicht aussprechen darf.  Herr Solf, Sie haben hier als Erstes das Thema „Salafisten in Mönchengladbach“ angeführt. – Die muss man gar nicht mehr integrieren. Das sind zum Teil Deutsche. Der Chef von denen ist Pierre Vogel.  Er ist Deutscher. Insofern ist das doch keine Frage der nicht gelungenen Integration.

Das macht mir auch große Sorge. Wir sprechen bei den Migrantinnen und Migranten immer von Herkunftssprache, Herkunftsland. Aber die Probleme in dem Bereich betreffen doch diejenigen, die schon in der dritten Generation in Deutschland sind, zum Teil Eltern haben, die in Deutschland geboren sind.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen die Begrifflichkeiten nicht durcheinanderbringen, wenn wir von Herkunftsland und Herkunftssprache sprechen. Es sind Duisburger, es sind Dortmunder, es sind Bochumer, es sind Kölner, es sind NordrheinWestfalen, und es sind Deutsche. Es ist unser aller Problem und die Herausforderung aller, etwas zu tun.

Herr Laschet, ich gebe Ihnen völlig recht: Nicht jeder Migrant kann wahrscheinlich zu dem Thema Migrationspolitik sprechen und ist ein ausgewiesener Experte – genauso wenig wie ein Zitronenfalter jeden Tag Zitronen faltet. Insofern ist das unser aller Aufgabe. Da haben Sie völlig recht.  Ich habe auch den Eindruck, dass diese Regierungskoalition und diese Ministerpräsidentin diese Aufgaben sehr ernst nehmen. Das sehen Sie nicht nur am Zuschnitt des Ministeriums und an der Aufwertung des Themas „Integration“ dadurch, dass wir für dieses Feld nicht mehr einen Integrationsbeauftragten, sondern eine Staatssekretärin – dazu noch mit Migrationshintergrund – haben, sondern auch an der Aussage von Hannelore Kraft in ihrer Regierungserklärung, dass wir ganzheitlich denken. Insoweit sitzen hier zehn Integrationsminister und eine Integrations-Ministerpräsidentin, weil wir nämlich unsere Aufgabe ganzheitlich sehen und ernst nehmen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin in den 80er- und 90er-Jahren politisch sozialisiert worden.  Ich kann mich an Gegebenheiten aus den 90erJahren erinnern, die uns allen noch vor Augen stehen. Wenn man zurückblickt, haben wir tatsächlich alle zehn Jahre so einen Ausbruch von unqualifizierten Beiträgen, die uns immer wieder ereilt haben, aber auch von schlimmen Ereignissen, auch in Nordrhein-Westfalen.  Ich habe nicht vergessen, dass es Anfang der 90er-Jahre in Mölln, Hoyerswerda und Solingen ganz schlimme Brandanschläge gab, dass wir in Nordrhein-Westfalen und ganz Deutschland eine Atmosphäre hatten, in der sich Leute ermächtigt gefühlt haben, Andersdenkende und Andersaussehende mit Molotowcocktails anzugreifen. Unsere Eltern haben uns zu dieser Zeit, als wir Kinder waren, nicht nach draußen geschickt, und wir mussten zu bestimmten Zeiten zu Hause sein, weil sie Angst um uns hatten. Bei manchen Leuten stand ein Eimer neben der Heizung, damit sie, falls jemand einen Molotowcocktail reinwerfen würde, schnell hätten löschen können. In so einer Atmosphäre haben wir gelebt.

Wir haben 1999 erlebt, dass durch Rot-Grün erstmals ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht entwickelt worden ist, man die Wirklichkeiten ernst genommen hat und dass es eine Unterschriftenkampagne in Hessen gab, die Gott sei Dank nicht von allen in der CDU unterstützt worden ist. Ich erinnere mich an führende Christdemokraten, die sich damals dieser Unterschriftenkampagne verweigert haben.  Ich denke, unsere gemeinsame Aufgabe ist, bei dem Thema „Integrationspolitik“ und „Migrationspolitik“ nicht in Träumereien zu verfallen. Aber ich bitte Sie auch, bei diesem Thema wirklich keine Angst zu haben. Ich bin davon überzeugt: Wenn der gute Wille da ist, wenn wir das Thema tatsächlich gemeinsam ernst nehmen, Herr Laschet, und es aus der parteipolitischen Polemik – auch, wenn man zukünftig Landesvorsitzender werden will – heraushalten, dann bin ich wirklich guter Dinge, dass wir bei dem Thema weiterkommen.

Johannes Rau hat in seiner Rede, als er als Bundespräsident kandidiert hatte, einen bemerkenswerten Satz gesagt, der bei mir persönlich hängengeblieben ist. Er hat gesagt: In Artikel 1 des Grundgesetzes steht nicht „Die Würde des Deutschen ist unantastbar“, sondern „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.  Und wenn wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen, diesen Satz ernst nehmen, dann haben wir eine gute Grundlage – eine Grundlage, die auf unserer guten Verfassung fußt, eine Grundlage, die das friedliche Zusammenleben auch der Völker in Nordrhein-Westfalen fördert. Dann, da bin ich mir sicher, können wir alle vielleicht in ein paar Jahren sagen: „Wir alle sind Nordrhein-Westfalen, auch diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben.“ – Danke sehr.